Tanzende Kinder, Klavier spielende Katzen, getarnte Werbekampagnen: Manche Videos springen wie ein Virus von einem Zuschauer zum nächsten, bringen unendlich viele Menschen zum Lachen, Weinen und Teilen… Was aber macht ein virales Video aus? Lässt sich der weltweite Erfolg planen? Ein Selbstversuch. VON LOVIS KRÜGER UND FLORIAN MÜLLER

 

Mehr als zwei Milliarden vierhundertsechsunddreißig Millionen vierhundertzehn Tausend vierhunderfünfundneunzig Mal wurde das Youtube-Video „Gangnam Style“ des koreanischen Künstlers Psy bis jetzt angesehen. Dabei sprechen gerade mal 79 Millionen Menschen Koreanisch, können den Rapsong also überhaupt verstehen. Aber Psy hat mit seinem Tanz anscheinend einen Nerv getroffen, der sich um Sprachbarrieren nicht schert. Wer den richtigen Nerv findet, braucht sich um die Verbreitung seiner Botschaft keine Sorgen mehr zu machen.

Müsste eigentlich ganz einfach sein: Das Ding auf einer Plattform wie Youtube hochladen und zugucken, wie es sich weltweit verbreitet. Und im Vergleich zu einer TV-Werbung ist so ein Internet-Video auch noch schnell produziert und dazu noch preisgünstig. So weit die Theorie. Solchen Hoffnungen versetzt PR-Berater David Stakemeier einen Dämpfer. Er ist davon überzeugt: „Virale Videos am Reißbrett planen und veröffentlichen funktioniert nicht.“

Muss nicht, aber kann. Schließlich hat die Einzelhandelskette Edeka mit ihrer »Supergeil«-Kampagne die deutsche Youtube-Welt erobert. Zufall oder nicht? Wir wollen gucken, ob nicht doch ein Rezept hinter solchen Videos steckt.

Das Rezept für einen Online-Hit

1996 hatten die viralen Videos Premiere, als ein Baby schlecht animiert über die Röhrenmonitore tanzte. Später kamen verwackelte Amateur-Videos und Zitate aus Computer-Spielen dazu. Die viralen Videos von damals machten nur bei einer überschaubaren Anzahl von Computer-Nerds die Runde. „Früher“, schwelgt PR-Experte Stakemeier in Erinnerungen, „haben wir die Videos auf CD-ROMs gebrannt und dann gemeinsam geguckt.“ Doch dann kam Youtube. Deswegen und wegen der sozialen Netzwerke verzücken die Clips jetzt das ganz große Publikum.

Die Geschichte der viralen Videos:

  1. Zutat: Ein positiver Konflikt

Eins haben alle erfolgreichen Filmchen gemeinsam: Die Menschen wollen sie unbedingt ihren Freunden zeigen. Sebastian Buggert vom Kölner Marktforschungsinstitut Rheingold hat untersucht, warum Clips im Netz geteilt werden. “Ein virales Video berührt psychologisch relevante Komplexe“, hat er herausgefunden, “und das sind immer Konflikte.“ Gemeint sei damit eine Spannung: Zwischen Groß und Klein etwa oder zwischen Gut und Böse. Oder es müsse ein Verhalten gezeigt werden, das den alltäglichen Rahmen so sprenge wie zum Beispiel eine Klavier spielende Katze. Eine Studie der American Marketing Association zeigt, welche Inhalte gut ankommen. Sie sollen grundsätzlich ein positives Gefühl vermitteln. Aber Angst und Wut, sagt Buggert, funktionierten ebenfalls. Bedingung: „Das Video muss den Betrachter emotional aufwühlen.“

  1. Zutat: Eine Geschichte

„Die Menschen wollen das Gezeigte nachvollziehen können“, sagt Buggert. Sein Beispiel ist „First Kiss“, ein Video, in dem sich wildfremde Menschen küssen. Zentral für den Erfolg sei gewesen, dass vor der Kussszene gezeigt werde, wie sehr sich die Menschen genieren. Und das kenne schließlich jeder aus eigener Erfahrung.

  1. Zutat: Trigger

„Man muss sich immer fragen: Welche Themen sind gerade hip?“, erklärt Buggert. So zum Beispiel beim „Star Wars Kid“, das kurz nach dem Blockbuster „Star Wars II“ um die Welt ging. Neben solchen aktuellen Aufregern gebe es aber auch Dauerbrenner wie Katzenvideos und Filme von krabbelnden Babys: „Die sind Projektionsflächen auf vier Beinen“, sagt Buggert. Die Menschen interpretierten ihre eigenen Wünsche, Emotionen und Erfahrungen hinein.

  1. Zutat: Authentizität

„Youtube-Videos funktionieren völlig anders als professionelle TV-Werbung“, sagt PR-Mann Stakemeier. Im Netz seien die Menschen an wackelige Handy-Bilder gewöhnt, hielten sie für authentisch. Es komme allerdings auf den Inhalt und den Absender an: Von Profis aber erwarte man auch professionell gemachte Videos.

Unser Video

Wir haben verstanden: Aufwühlen müssen wir die Menschen. Dafür braucht es einen Konflikt, eine Geschichte und authentisch rüberkommen müssen wir außerdem.

Nach einigen Diskussionen haben wir uns für folgende Handlung entschieden:

Eine Frau im Engelskostüm steht vor dem Kölner Dom, in der Hand einen Selfie-Stick. Ein maskierter Teufel kommt ins Bild gerannt. Der Engel erschreckt sich und drischt mit dem Selfie-Stick auf den Teufel ein. Krach-Bumm.

Das muss eigentlich einschlagen: Himmel gegen Hölle, der älteste Konflikt der Welt. Der Selfie-Stick, unfassbar hip im Moment. Und maximaler Wiedererkennungswert durch die Kulisse des Kölner Doms. Wenn wir Glück haben, kriegen die Touristen einen Schreck, was wiederum die Spiegelneuronen unserer Zuschauer aktivieren wird. Sie werden sich fragen, was da gerade passiert ist und wie sie selber auf so eine Szene reagiert hätten. Das alles fangen wir mit einer wackeligen Handykamera ein, damit es ganz zufällig und super authentisch rüberkommt.

Die Verbreitung

Eine wichtige Rolle bei der Verbreitung spielen die sozialen Medien. “Die Leute sind Empfänger und Sender in einem”, sagt Sebastian Buggert vom Rheingold-Institut. “Wir sind ständig auf der Suche nach viralen Ideen, denn wir sind geil auf die Klicks.“ Wer ein bestimmtes Video auf seiner Pinnwand poste, wolle sich damit profilieren, seine Ansichten und seinen Lebensstil darstellen. “Wir sind in den Sozialen Medien alle Selbstvermarkter”, sagt Buggert.

Bis ein Video „viral geht“, durchläuft es mehrere Phasen. Nach dem Einstellen auf Youtube wird der Clip zunächst im Freundeskreis geteilt. „Das ist die kritische Phase“, weiß David Stakemeier. Die meisten Videos blieben an diesem Punkt hängen. Damit ein Clip zum „Virus“ wird, muss er nämlich eine Person erreichen, der viele Menschen im Netz folgen, am besten einen Promi. Teilt der das Video, vervielfacht sich das Publikum. „Der Absender ist ein wichtiger Faktor, damit ich mir ein Video angucke“, erklärt Buggert. Ist die Sache erst einmal in Fahrt, empfehlen immer mehr Menschen den Clip weiter. „Ich werde Teil einer Massenbewegung, das ist ein mächtiges Erlebnis“, sagt Psychologe Buggert. Bald berichten auch die traditionellen Medien und das Video erreicht auch Menschen, die sich sonst nicht sehr mit dem Internet beschäftigen. Insgesamt, hat Stakemeier beobachtet, halte der Hype um ein virales Video im Vergleich zu früher immer länger an.

Bei unserem Video überspringen wir Phase Eins. Wir haben die Mitleids-Klicks unserer Online-Freunde nicht nötig. Um gleich zu Beginn möglichst viele Menschen zu erreichen, posten wir unser Video dort, wo sich alle tummeln: In großen Kölner Facebook-Gruppen und auf internationalen Netz-Schmankerl-Portalen wie Reddit oder 9Gag. Jetzt heißt es nur noch warten auf den künftigen Welterfolg.

Die erste halbe Stunde läuft ziemlich gut. Auf Facebook trudeln im Minutentakt Likes und Kommentare ein. Eine Frau schreibt: „Engel sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.“ Trauriger Smiley. Ein Mann erwidert: „Engel sind halt auch nur Geflügel.“ Für so viel Schlagfertigkeit geben wir ihm einen Daumen hoch. Der erste Nutzer fragt, ob der „Express“ schon darüber berichtet hat. Wir suchen schon mal unsere Krawatten raus für das erste Interview.

Dann kommt die Wende: Unser Post wird von einer Schrankwand überholt, die ein Nutzer verschenken möchte. Es folgen 36 Kommentare mit dem Inhalt „Hier“. Offenbar herrscht in Köln akute Schranknot. Und dann werden wir auch noch sabotiert: Ein Streber fragt, ob wir denn die Rechte an dem Video hätten. Kurze Zeit später ist das Video aus dieser Gruppe verschwunden, anscheinend von einem Administrator gelöscht.

Vier Tage später

Wir sind gescheitert: 65 dürftige Facebook-Likes. Zwei Personen haben das Video geteilt. Auf Youtube haben sich 150 Leute das Video angesehen und die einzige Reaktion ist ein Daumen runter. Dann war das Video in den Archiven der Online-Welt verschwunden. Vielleicht wird es ja irgendwann noch was; manche Videos werden ja erst nach Jahren zum Welterfolg. Bis dahin müssen wir zähneknirschend eingestehen, dass David Stakemeier vermutlich recht hat, wenn er sagt: „Virale Videos am Reißbrett planen funktioniert nicht.“

Ist vielleicht auch besser so. Es wäre sehr gefährlich, wenn Kommunikations-Experten den Menschen einfach Botschaften nach Rezept ins Gehirn impfen könnten. Marketing-Fachleute fänden das sicher „supergeil“.