Sie sind die coolen Leute von nebenan, und genau das macht ihren Reiz aus. Youtuber haben inzwischen das Image von Rockstars, mit allem, was dazu gehört: Werbeverträge, kreischende Fans – und öffentlicher Zurschaustellung. VON ALICA MÜLLER

 

Vor dem Kölner E-Werk liegen die Nerven blank. Bei jedem Auto, das auf den Hof fährt, fängt die Menge an zu kreischen. Manche warten schon seit zehn Stunden vor der Veranstaltungshalle, die meisten hier sind weiblich und zwischen zehn und sechszehn. Alle warten auf Leute, deren Namen dem Großteil der Bevölkerung nicht unbedingt etwas sagen – die unter ihren Fans jedoch für eine Begeisterung sorgen, wie das früher Tokio Hotel, noch früher Take That und ganz früher die Rolling Stones schafften. Die Fans warten in Grüppchen auf ihre Idole: Die mit den grünen Haaren warten auf Melina Sophie. Die mit dem aufgemalten „Bee“-Tattoo auf DagiBee. Und die Fans von DieAussenseiter tragen eine Mütze, und zwar immer. Insgesamt werden rund 20 Stars erwartet, die ihre Popularität der Videoplattform Youtube verdanken – und sich ihren Fans bei einer deutschlandweiten Gangtour live präsentieren wollen.

Veranstaltungen wie diese sind die Ausnahme. Normalerweise sind Youtuber im Internet unterwegs und haben es online ins Herz ihrer Fangemeinde geschafft. Diese tut alles, um Schlagwörter wie #WirLiebenDichBibi in die „Trending Topics“ von Twitter zu bringen. Die Anhänger von „DagiBee“ nennen sich „Bienchen“, die Zuschauer von BibisBeautyPalace „Bibinators“. Die Fans klicken, teilen, liken und machen die Youtuber dadurch beliebter, bekannter und letztendlich reicher. Dafür kriegen sie per Video Häppchen aus dem Leben ihrer Stars zu sehen, sitzen beinahe mit in deren Wohnung und sind virtuell beim Shoppingerlebnis oder im Urlaub dabei.

Ein eingespieltes Geben und Nehmen

Die Währung in dieser Welt sind Likes – und das höchste Gut die Aufmerksamkeit der Youtuber. Wenn es heißt: „Ich verlose unter allen, die mein neues Video teilen, eine Privatnachricht“ oder: „Ich werde gleich einige von denen, die meinem neuen Video einen Daumen hoch geben, anrufen!“ herrscht virtueller Ausnahmezustand. Trifft jemand sein Idol gar zufällig auf der Straße, macht er ein Selfie und benutzt es als Profilbild. Wer gar das Glück hat, von seinem Star auf Twitter abonniert zu werden, macht davon ein Bildschirmfoto und postet die Sensation online auf allen sozialen Kanälen. Wer hoch genug steht in der Gunst der Youtube-Idole, avanciert also zur Internet-Berühmtheit und hat selber schnell zigtausende von Anhängern.

Wenn die Youtuber den Platz vor der Kamera verlassen, um ihre Fans im echten Leben zu treffen, dann herrscht Ausnahmezustand. Ganz vorne in der Schlange vor dem E-Werk steht die 15-jährige Laura. Um zwölf Uhr mittags, fünf Stunden vor Einlass, waren sie und ihre Freundin da und haben noch so gerade einen Platz in der ersten Einlasswelle ergattert. Die beiden basteln an einem Album, in das sie Ausschnitte aus der Bravo, Screenshots und Kritzeleien kleben. Als sie fertig sind, drücken sie es einer vorbeikommenden Tourmanagerin in die Hand – in der Hoffnung, dass es bei Dagi, Melina und Co. ankommt. Der Rest der unzähligen Geschenke landet am Nachmittag im Müll, weil die Fans ihre – zum Teil liebevoll gebastelten – Mitbringsel nicht mit in die Halle nehmen dürfen. Die ersten Tränen fließen.

Noch schlimmer ist es für die, die gar nicht in die Halle dürfen. Wer noch nicht 14 ist und kein Elternteil dabei hat, hat umsonst gewartet. Es gibt tränenreiche Anrufe zu Hause, das Einverständnis umgehend per Whatsapp zu erteilen. Ein Vater, der seine Tochter bis zum Eingang begleitet, wird sauer: „Wenn Sie meine Tochter jetzt nicht reinlassen, dann lernen Sie mich aber von einer ganz anderen Seite kennen.“ Die Kontrolleurin zeigt sich unbeeindruckt. Nach einer Diskussion mit seiner Tochter entschuldigt sich der Vater, bekommt ein Ticket und hat seiner Tochter den Tag gerettet. Glück gehabt, denn die rund 22.000 Tickets à 30 Euro waren eigentlich schon wenige Stunden nach Ankündigung der Tour ausverkauft.

Laura hatte sofort zugeschlagen und musste danach im Betrieb ihrer Eltern helfen, um die dreißig Euro zusammen zu kriegen. Seit zwei Jahren prägt Youtube ihr Leben. Spätestens abends sitzt die Realschülerin, die ihre sonstige Freizeit im Bonner Opernchor verbringt, vor ihrem Laptop, guckt sie sich Videos an, folgt ihren Stars auf Twitter und der Bilderplattform Instagram. „Die sind toll, weil sie einfach so echt sind“, sagt Laura. Selbst wenn es in den Filmen um Alltägliches geht wie den Einkauf oder das Abendessen, gucken sie und zehntausende andere sich die Fotos und Videos dazu an.

Diese Lust von Teenagern am Banalen erklärt Axel Bucher, Professor für Psychologie an der Universität Düsseldorf, so: „Die Pubertät ist eine unsichere Lebenssituation. Man muss selbstständig werden und dafür muss man sich an anderen orientieren.“ Die Idole seinen ein Stück weit Vorbild, so der Psychologe: „Das sind Leute, die haben einen attraktiven Lebenswandel, die sind erfolgreich. Man orientiert sich immer an erfolgreichen Leuten, selbst wenn man gar nicht erwartet, diesen Erfolg auch selbst erreichen zu können.“

Laura strengt sich besonders an, eine Reaktion ihrer Youtuber zu erreichen. Wenn ein neues Video online geht, macht sie möglichst viele Bildschirmfotos davon, erstellt daraus Collagen und postet sie auf Instagram und Twitter. Die ersehnte Belohnung ist ein „Gefällt mir“ vom Youtube-Star. „Dann merkt man, die bemerken einen“, sagt Laura, „und das ist so ein schönes Gefühl.“ Als der Videoblogger Julienco, der mehr als eine Millionen Abonnenten auf Youtube hat, ankündigte, er wolle mit einem Fan telefonieren, schrieb Laura ihm, dass sie am nächsten Tag Geburtstag habe. Um Mitternacht klingelte das Handy, Julienco gratulierte und redete eine Viertelstunde lang mit ihr. „Ich habe einfach nur geweint“, sagt Laura.

Parasoziale Interaktion nennen Medienwissenschaftler das Phänomen, sich jemandem, den man nur von Bildschirm kennt, nah zu fühlen: Der Moderator verschafft uns das Gefühl, persönlich angesprochen zu sein. Wir fühlen uns ihm nahe, fast so, als könnten wir auch mit ihm sprechen. Das Phänomen ist alt, genau wie das der extremen Fanliebe. Doch wohl nirgendwo wird die Illusion mehr gefördert als auf Youtube.

Die Kehrseite dieser Illusion von Nähe ist es, dass die Verehrung der Fans keine Grenzen mehr kennt. Immer wieder posten Youtuber verzweifelte Aufrufe: „Hört auf, euch in meinem Garten zu verstecken!“ oder: „Danke an die Person, die meine Handynummer unter mein letztes Video gepostet hat, werde mir dann jetzt wohl eine neue Nummer holen müssen.“ Simon Unge, der auf seinem Kanal Ungespielt zeigt, wie er Videospiele spielt, zog im Sommer aus seiner WG aus, weil im Hausflur ständig Fans auf ihn warteten. Auch Laura hat schon zwei Mal zusammen mit einer Freundin bei der Youtuberin Bianca Heinicke vom Kanal BibisBeautyPalace geklingelt. Aus den Videos wussten die beiden, dass sie in Köln-Zollstock wohnt. Stundenlang haben sie auf Google Maps verbracht, um das Haus zu finden, das sie aus den Videos kannten. „Beim ersten Mal war sie nicht so gut drauf, weil wir sie geweckt hatten“, erzählt Laura, „aber dann sind wir später noch mal hingefahren und da hat sie gesagt, dass sie es so toll findet, dass wir immer ihre Videos gucken.“ Überglücklich fuhren die beiden Mädchen mit einem gemeinsamen Selfie nach Hause.

Dass die Youtuber mit ihren Videos zum Teil viel Geld verdienen und hinter ihnen ein Netzwerk steht, das sie managt, stört Laura nicht. Auch nicht, dass in den Videos viel Werbung vorkommt. Sie kaufe sich nichts, sagt sie, nur weil es in einem Video gezeigt werde. Bei anderen dagegen geht die Marketingstrategie voll auf. So ist Bianca Heinicke in einem ihrer Videos von Paketen umgeben, die von ihren Fans geschickt worden sind. Sie schenken ihr genau die Kosmetikartikel, die Heinicke zuvor beworben hatte. Es scheint egal zu sein, was die Youtuber in ihren Videos machen. Die Klickzahlen sind konstant hoch, egal ob sie ihren Drogerieeinkauf zeigen, ein Musikvideo drehen oder Schminktipps gehen. Die Jungs der Youtube-Band ApeCrime stecken sich in einem ihrer Videos Nutella in die Nase und haben dafür bislang mehr als 220.000 Aufrufe bekommen.

Auf der Gangtour wollen tausende von Fans ihre Stars endlich live sehen. Anspruchsvoll sind sie nicht. Kaum einer beschwert sich über die langen Warteschlagen, den zeitweise chaotischen Einlass – oder die maue Bühnenshow. Nicht mehr als zehn Minuten verbringen die Youtuber im Durchschnitt auf der Bühne. Musikacts wie ApeCrime oder LiontTV singen und die Masse feiert Zeilen wie „Wir sind die Affengang“ oder „Ich liebe mein Doppelkinn“. Andere dagegen setzen auf ihre bloße Anwesenheit. Ein Trio aus drei Beautybloggerinnen, die ihre Videos mit Drogerieeinkäufen und Mascara-Tests füllen, veranstaltet eine „Challenge“ auf der Bühne: Sie nennen Musikstars, zwei Freiwillige aus dem Publikum müssen die passenden Songtitel nennen. Am Ende bekommen die beiden Turnbeutel mit dem Touren-Logo geschenkt und dürfen noch schnell noch Selfies machen. Die groß angekündigte zweite Challenge besteht daraus, dass die Moderation Dagi das Publikum auffordert, so laut wie möglich zu kreischen. Kein Problem, die Fans haben im Laufe des Tages schon zu Genüge bewiesen, dass sie Lärm machen können.

Doch das wahre Highlight wartet nach der Show. Jeder soll ein Selfie mit jedem Youtuber machen dürfen, wurde im Voraus versprochen. Dafür müssen die Zuschauer noch mal bis zu zwei Stunden warten. Dann dürfen sie an den aufgereihten Idolen vorbeigehen und diese mit dem Handy filmen – einzelne Fotos würden zu lange dauern. Laura kommt glücklich mit einem 48 Sekunden langen Video aus der Halle. An einer Stelle war die Aufnahme gut genug, um ein Foto mit Melina heraus schneiden zu können – für Lauras neues Profilbild.